Was aus Europas Green Deal wird

Eine Analyse von Ursula von der Leyens Vorschlägen.

Hi Cleantechie!

Dieser Newsletter gibt dir jede Woche in 5 Minuten den Überblick über die wichtigsten Unternehmen, Forschungsdurchbrüche und Trends der Branche.

In dieser Ausgabe reden wir über die eine politische Personalie, die die Welt mit Spannung erwartet hatte. Niemand war sich sicher: Wird sie es oder wird sie es nicht?

Ich spreche natürlich von Ursula von der Leyen. (Was hast du gedacht, welcher Name jetzt hier steht? 😉) Von der Leyen kann für weitere fünf Jahre die EU-Kommission führen. Ich schaue mir an, was sie zur Zukunft des Green Deal gesagt hat. Es gibt eine aufschlussreiche Akzentverschiebung.

Vielen Dank an alle, die bei meiner kleinen Umfrage vergangene Woche mitgemacht haben. Falls du noch teilnehmen willst, hier entlang. Die Umfrage hilft mir dabei, diesen Newsletter zu finanzieren.

Let’s go!

Der Green Deal wird hellgrün – wo Ursula von der Leyen zu wenig sagte

Warum der Green Deal so wichtig ist

  • Der Green Deal ist der Rahmen für die Klimaschutzpolitik der EU und damit auch für die Industriepolitik der gesamten EU.

  • Ursula von der Leyen stellte ihn im Dezember 2019 vor. Er war auch eine direkte Reaktion auf die Klimaproteste des Jahres 2018 von Fridays For Future.

  • Zentrale Ziele sind: bis 2050 keine Netto-Treibhausemissionen mehr; Senkung der Emissionen um mindestens 55 % bis zum Jahr 2030 gegenüber dem Jahr 1990.

  • Zentraler Mechanismus dafür ist die Initiative „Fit for 55“; darin bündelt die EU alle Gesetze. Etwa jene zum CO₂-Grenzausgleichsmechanismus, zum Verbrenneraus, zur Energieeffizienz usw. Hier findest du einen Überblick der EU zu den einzelnen Maßnahmen.

  • Mit €600 Milliarden verteilt über sieben Jahre unterlegte die EU das Vorhaben.

  • Der Green Deal gilt als europäische Antwort auf die grüne Subventionspolitik der USA mit dem Inflation Reduction Act und auf die exportorientierte Industriepolitik Chinas.

  • Nach der Europawahl im Juni dieses Jahres war unklar, in welcher Form der Green Deal weitergeführt wird (meine Kurzanalyse nach der Wahl).

Was Ursula von der Leyen in ihrer Rede in Aussicht stellte

  • Von der Leyen legte in ihrer Rede einen großen Schwerpunkt auf die Wettbewerbsfähigkeit Europas: Sie will den Binnenmarkt vertiefen, vor allem die Kaptitalmarkunion vollenden, Bürokratie abbauen, mit einem neuen EU-Fonds in Zukunftstechnologien investieren und Fusionen erleichtern, damit die EU mehr Global Player hervorbringen kann.

  • Der Akzent auf Wettbewerbsfähigkeit und Industrie setzt sich auch in der Klimapolitik fort. Denn der Green Deal bekommt jetzt ein Kind: den Clean Industrial Deal. Den möchte von der Leyen innerhalb der ersten 100 Tage vorlegen.

    • Die Emissionen bis 2040 um 90% gegenüber dem Jahr 1990 zu senken, soll Gesetz werden.

    • Mit einem Industrial Decarbonisation Accelerator Act soll die EU die Industrie bei der Abkehr von fossiler Energie unterstützen. So will von der Leyen Genehmigungsverfahren beschleunigen, neue Leitmärkte für saubere Technologie etablieren und nicht weiter spezifizierte „Investitionen vor allem in die energieintensive Industrie kanalisieren“

    • Von der Leyen macht explizit niedrigere Strompreise zu einem Teil ihrer Agenda.

    • Mit einem Circular Economy Act will die EU Nachfrage für die Recyclingindustrie schaffen, mit besonderem Augenmerk auf kritische Rohstoffe.

    • Und: In Zukunft sollen Zugreisende in der EU mit einem Ticket von Tallinn nach Lissabon kommen (yay!).

🍏 Was ich denke

In diesem Abschnitt gebe ich dir meine persönliche Einschätzung. Wenn du Lob, Hinweise oder Kritik hast, antworte mir direkt auf diese Mail oder besuche die Kommentarsektion.

Ursula von der Leyen brauchte eine breite Mehrheit, um eine zweite Amtszeit antreten zu können. Denn sie konnte sie nicht darauf verlassen, dass wirklich alle Mitglieder der konservativen Fraktion für sie stimmen.

Sie hatte zwei Möglichkeiten, um die nötigen Stimmen zu bekommen. Entweder von den Grünen oder von der extremen Rechten um die Fraktion von Marine Le Pens Rassemblement National. Sie hat sich für die Grünen entschieden.

Das war eine folgerichtige Entscheidung. Denn Ursula von der Leyen lagen in den vergangenen fünf Jahren ihrer Amtszeit zwei Dinge am Herzen: eine immer tiefer zusammen arbeitende Europäische Union, die global handlungsfähig ist und mehr Klimaschutz. Aber die extreme Rechte agitiert aktiv gegen mehr Macht in Brüssel und effektiven Klimaschutz.

Und das ist die eine gute Nachricht, die kurz nach der Europawahl noch fraglich war: Der Green Deal lebt und hat sogar Nachwuchs bekommen, den Clean Industrial Deal.

Aber von der Leyen muss nun konservative und grüne Anliegen zusammenbringen. Politico fasste ihr Strategie treffend zusammen:

Basically, she pulled a Joe Biden — taking inspiration from the U.S. president’s decision to disguise his signature climate law as an economic package dubbed the Inflation Reduction Act.

Ursula von der Leyen hat es Joe Biden nachgemacht und Klimaschutzpolitik als konzertierte Industriepolitik zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit verkauft. Genau das, also einen Fokus auf Wettbewerksfähigkeit, hatten die großen Industrieverbände zuvor eingefordert.

Die Grünen wiederum wollten den Green Deal absichern und fortführen. Dass die EU jetzt bereits bis zum Jahr 2040 90 % ihrer Emissionen kappen will, war eine Konzession an die Grünen – und ist für die europäische Cleantech-Industrie eine gute Nachricht. Denn dieses Ziel bedeutet Planungssicherheit.

Wer glaubte, dass die nächsten Regierungen das mit den Wärmepumpen und E-Autos wieder sein lassen würde, weiß jetzt, dass das nicht passieren wird.

Aber, wer genauer hinsieht, erkennt, dass der schwarz-grüne Wettbewerbsfähigkeits-Klimaschutz-Balanceakt von der Leyens noch für Diskussionen sorgen muss.

Es war weniger das, was sie gesagt hat, als das, was sie nicht gesagt hat. Und hier wird sich entscheiden, was Ursula von der Leyens Bekenntnis zum Green Deal wert sein wird.

Nehmen wir den europäischen Emissionshandel. Der soll planmäßig im Jahr 2027 auch auf die Sektoren Gebäude und Verkehr ausgeweitet werden. (Bisher liegt er im nationalen Bereich.) Aber schon jetzt zeichnet sich Widerstand dagegen ab. Polen hat angekündigt, diesen ETS II genannten Emissionshandel aufweichen und abschwächen zu wollen, wenn das Land die Ratspräsidentschaft übernimmt.

Dann das Verbrenneraus. Hier ist es der CDU-Politikerin gelungen, wirklich alle Seiten (vorerst) glücklich zu machen. In ihrem Arbeitspapier für die nächste Legislaturperiode heißt es wörtlich:

So schafft beispielsweise das Ziel der Klimaneutralität für Kraftfahrzeuge bis 2035 Vorhersehbarkeit für Investoren und Hersteller. Um dieses Ziel zu erreichen, ist ein technologieoffener Ansatz erforderlich, bei dem E-Fuels […] eine Rolle spielen können.

Sei ehrlich, mit diesen zwei Sätzen lässt sich doch jedes LinkedIn-Kommentarspalten-Bingo gewinnen, oder?

Und das ist das Problem. Von der Leyen hat sich nicht klar zur E-Mobilität bekannt, aber auch nicht gegen das Verbrenneraus im Jahr 2035 positioniert. Damit sind Diskussionen vorprogrammiert, die bewirken werden, dass Europa in der E-Mobilität noch ein wenig mehr abgehängt wird.

Wenn Ursula von der Leyen über Landwirtschaft gesprochen hat, dann nur auf eine Weise: Europas Bauern brauchen mehr Unterstützung. Naturschutz spielte bei diesem Thema für sie keine Rolle – und das, obwohl der Konflikt Naturschutz gegen Landwirtschaft im ersten Halbjahr für heftige Bauernproteste gesorgt hat. Sie hat sich hier also für eine Seite entschieden und das eine Thema, das sich nicht als Maßnahme für mehr Wettbewerbsfähigkeit verkaufen lässt, beiseitegeschoben.

Zuletzt die Finanzierung: Die ist völlig unklar. Ich habe von VdL nicht erwartet, dass sie das KlimaschutzWettbewerbsfähigkeits-Budget der EU bis zur letzten Nachkommastelle präsentiert.

Aber das Einzige, was sie erwähnt, ist privates Investmentgeld, das durch eine Kapitalmarktunion fließen soll. Das kann ich nur so halb ernst nehmen, schließlich sollte diese Kapitalmarktunion bereits im Jahr 2019 kommen. Größere Initiativen hat von der Leyen nicht. Braucht es neue EU-Steuern? Eurobonds? Sagt sie nicht.

Während die USA und China also weiterhin Hunderte Milliarden auf ihre Industrien werfen, hofft die EU auf private Gelder, die vielleicht mobilisiert werden könnten, wenn eines Tages eine zehn Jahre alte politische Initiative des ehemaligen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker möglicherweise vollendet wird.

Das ist mir zu wenig. Das gilt für das ganze Programm, das Ursula von der Leyen vorgelegt hat.

Ja, es ist gut, dass der Green Deal abgesichert wurde. Ja, sogar der Fokus auf die Industrie ist richtig, schließlich sind gerade Zementherstellung, stofflicher Ersatz von fossilen Grundstoffen und Industriewärme drei große Sektoren, bei denen die europäische Wirtschaft noch am Anfang der Dekarbonisierung steht.

Weil aber Von der Leyen bei entscheidenden Fragen schwammig blieb, besteht die Gefahr, dass sich die EU in den entscheidenden Detailfragen immer wieder für business as usual und gegen eine vorwärtsgewändte, wirklich grüne Industriepolitik entscheiden wird.

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Der letzte Link

Leider hinter der Paywall, aber in diese Überschrift bei Zeit Online habe ich mich schockverliebt: „Schritt, Schritt und hopp: Hippo hebt ab“ (Link)

In der vorletzten Ausgabe hatte ich gefragt, ob ihr im Small Talk mit Architekten eher aufs Risiko geht oder nicht und ich denke, wenn wir uns alle mal auf einer Party begegnen würden, würde das ein lebhafter Abend werden, wie das Ergebnis zeigt 🙂 

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👋 Ich bin sehr froh, dass ich niemandem da draußen erklären muss, wieso der europäische Green Deal seinen Namen aus den USA mopste, aber früher verabschiedet wurde als der US-amerikanische Green New Deal, der dann gar nicht so hieß, sondern sich als Inflation Reduction Act tarnen musste.

Rico Grimm

🍏 

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