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Erdkabel gegen Freileitung – der Crashkurs
Freileitungen gewinnen und werden vielleicht wieder kommen.
Hi Cleantechie!
Dieser Newsletter gibt dir jede Woche in 5 Minuten den Überblick über die wichtigsten Unternehmen, Forschungsdurchbrüche und Trends der Branche.
Es ist eine Debatte, die unter der Oberfläche vor sich hin summt, aber an Fahrt gewinnt: Sollte Deutschland wieder auf Freileitungen statt auf Erdkabel setzen? Ich habe für dich die wichtigsten Fakten und Argumente zusammengetragen und gebe dir meine Einschätzung.
In den guten Links heute zwei Schwerpunkte auf den „Golfstrom“ und auf die Europawahl. Zweimal beunruhigende Nachrichten; aber eine von beiden könnte sich als letztlich verkraftbar erweisen.
Let’s go!
Erdkabel gegen Freileitung – der Crashkurs
Warum dieses Thema jetzt wieder wichtig ist
Die Energiewende scheitert ohne Netzausbau. Neue Hochspannungsleitungen sind nötig.
Der Erdkabel-Konsens bröckelt.
Mehrere Bundesländer (u.a. Bayern, Brandenburg, Baden-Württemberg, Hessen), große Netzbetreiber (TransnetBW, Tennet, 50 Hertz), Gewerkschaften, ein Bauernverband und die Industrie wollen doch wieder Freileitungen zulassen.
Ihr Argument: Es ließen sich €35,3 Milliarden sparen.
2016 hatten Union und SPD eigentlich entschieden, dass die neuen Leitungen mit Erdkabeln gebaut werden müssen. Gegen die ein Jahrhundert lang üblichen Freileitungen protestierten Anwohner immer wieder.
Das ist die politische Dimension
Die Koalition für Freileitungen ist lagerübergreifend. Dass diese Akteure alle gemeinsam das Gleiche fordern, ist bemerkenswert.
Wirtschaftsminister Robert Habeck wiegelte im März ab: „Wollte man auf Freileitungen umswitchen, ginge das allenfalls, wenn die Länder schnell und in großer Gemeinsamkeit inklusive Bayern die Bundesregierung auffordern, das zu tun. Und alle müssten dann geschlossen in den Regionen dafür werben.“
Bayern bewegt sich lange nicht. Erst in seiner Regierungserklärung vom 13. Juni kündigte Söder an, bei neuen Trassen auf Freileitungen setzen zu wollen. Die bislang geplanten Projekte berührt das nicht.
Bleiben die politischen Schwergewichte Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, die neben Schleswig-Holstein gegen die Freileitungen sind.
Allerdings könnten die Bundesländer ein neues Gesetz nicht verhindern. Der Bundesrat bleibt außen vor.
Hier sollen die Trassen gebaut werden
SuedLink, SuedOstLink und Ultranet sind die größten geplanten Verbindungen. Sie sind auf der Karte in weiß-rosa dargestellt.
Das sind die technisch-wirtschaftlichen Fakten
Erdkabel und Freileitungen sind technologisch ausgereift; beide transportieren verlässlich Strom bei hohen Spannungen.
Erdkabel haben auf der Leitungsebene einen leichten Vorteil, weil sie weniger Strom bei der Energieübertragung verlieren. Gleichzeitig aber haben sie einen größeren Querschnitt und verbrauchen etwas mehr Material.
Generell gilt bei Stromleitungen: Je höher die Spannung, desto höher muss der Sicherheitsabstand sein.
Da spielen Freileitungen ihren zentralen Vorteil aus: Bei Freileitungen, die 50 Meter über dem Boden schweben, gibt es immer einen Sicherheitsabstand. Die Luft isoliert das Kabel. Außerdem ist deren Montage einfach, genauso wie die Fehlersuche. Die Übertragungsverluste sind gering und als die Hochspannungsnetze entstanden, waren Freileitungen wegen all dieser Gründe die erste Wahl.
Aber es wäre denkbar ungünstig, wenn ich eine Freileitung mit 330 kv Spannung in einer Stadt von Dach zu Dach führe und die Leitung bei einem heftigen Sturm auf die Häuser kracht.
In Städten braucht es an vielen Orten Erdkabel. Berlin etwa hat eine 380kv-„Kabeldiagonale“, die den Osten und Westen der Hauptstadt verbindet und wegen der Energiewende jetzt ausgebaut wird. Du siehst das Berliner Leitungsnetz auf dieser Karte:
Das Hauptargument für Erdkabel war lange Zeit also Sicherheit.
Diese spielt aber in der aktuellen Diskussion keine Rolle, jedenfalls nicht im technisch-physikalischen Sinne, weil es sowieso nur um Leitungen außerhalb von Städten geht.
Viel mehr waren sich Bürgerinitiativen und dann auch Politiker sicher, dass Erdkabel…
…schöner anzusehen sind, weil sie gar nicht zu sehen sind.
…besser für die Natur seien, weil für sie keine Trassen durch etwa den Thüringer Wald geschlagen werden muss. Alles ist schließlich gut verpackt und gut versteckt. Motto: unten Volt, oben Wald.
Außerdem geben Erdkabel nicht so viel elektromagnetische Strahlung ab, was für manche ein wichtiges Argument ist. Sie brummen und knistern auch nicht, wie Freileitungen es vor allem bei Feuchtigkeit tun.
Wie ich das so schreibe, habe ich mich beinahe schon selbst überzeugt: Warum bauen wir überhaupt noch archaische Freileitungen? Haben wir denn nicht schon genug Windräder (und abbruchreife AKWs), die die Landschaft verschandeln?
Erdkabel haben entscheidende Nachteile.
Der größte war lange Zeit auch der Grund, warum es überhaupt keine Erdkabel gab: sie brauchen eine zusätzliche Isolierung. Als das Stromnetz entstand, konnten die Ingenieure keine Isolierung herstellen, die lange genug gehalten hätte. Heute erreichen sie mithilfe von Kunststoffen akzeptable Werte.
Innen das wertvolle Kupfer, außen die Polyethylen-Isolierung. Hier findest du eine detaillierte, schematische Darstellung eines Erdkabels.
Aber Erdkabel halten nur halb so lang (40 Jahre) wie Freileitungen (80 Jahre).
Wenn sie repariert werden müssen, dauert das wiederum bis zu 30-mal länger. Bei Erdkabeln bis zu vier Wochen. Freileitungen können am selben Tag repariert werden.
Das bedeutet, dass Erdkabel dem ganzen Netz in Extremfällen mehr abverlangen, weil sie länger ausfallen als Freileitungen.
Um ein Erdkabel überhaupt verlegen zu können, braucht es einen 50 Meter breiten Arbeitsgraben mit ausreichend Platz für die Baufahrzeuge:
Auch zum Arbeitsgraben gibt es eine schöne, detaillierte Darstellung. // Quelle des Fotos: Amprion
Auf den fertigen, mehr als 30 Meter breiten Erdkabel-Trassen dürfen allerdings keine Bäume mehr wachsen. Deren Wurzeln könnten die Kabel gefährden. Kleine Sträucher gingen aber.
„Unten Volt, oben Wald“. Hörte sich zwar zunächst gut an, funktioniert aber nicht (sorry).
Letzter Nachteil: Im Hochspannungsbereich sind Erdkabel drei- bis achtmal so teuer wie Freileitungen.
Im Jahr 2016 mussten die Netzbetreiber für einen Kilometer Freileitung mit €1,4 Millionen kalkulieren. Für einen Kilometer Erdkabel hingegen mit €4,2-€11,2 Millionen Euro.
Warum?
Das Kabel ist nicht viel teurer. Die Kunststoff-Isolierung auch nicht.
Es sind die Tiefbauarbeiten, bei denen die Bauarbeiter schweres Gerät, Montagezelte und spezielle Bodenmessanlagen einsetzen müssen. So tragen sie auch den Boden schichtweise ab, um den Graben nach Ende der Bauarbeiten auch wieder schichtweise aufzufüllen. Aufwändig!
Bei Freileitungen reichen handelsübliche Industriekräne, um die Masten stückweise zu verschrauben.
🍏 Was ich denke
Das damals von Sigmar Gabriel geführte Wirtschaftsministerium argumentierte im Jahr 2015, dass Erdkabel günstiger als Freileitungen seien. Denn die Bürger akzeptierten Erdkabel eher, die Kabel könnten schneller verlegt werden und so die Redispatch-Kosten im Netz sinken.
(Zur Erinnerung: Redispatch-Kosten entstehen, wenn Netzbetreiber schnell und ungeplant zusätzlichen oder weniger Strom an einem Ort benötigen. Sie steigen u.a. deswegen gerade, weil es zu wenige Leitungen gibt.)
Implizit argumentierte die Bundesregierung damals also: Freileitungen hätten sie auf Jahre hinaus nicht durchbekommen.
Stimmt das?
Die Große Koalition hat es auf jeden Fall nicht ernsthaft versucht.
Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer tauchte, so wirkte es, überall auf, wo es Kameras und Protest gegen Freileitungen gab. Medien nannten ihn die „Speerspitze“ der Bewegung gegen „Monstertrassen“.
Ich vermute, dass die verantwortlichen Politiker vor knapp zehn Jahren die politischen Kosten von Freileitungen mehr scheuten als die tatsächlichen Kosten, die gut versteckt als kleiner Posten auf der Stromrechnung auftauchen. Diese Kosten sind undurchsichtig für den Kunden und interessieren im Detail auch niemanden – jedenfalls, wenn man die durchschnittliche Sachtiefe einer durchschnittlichen deutschen Talkshow zum Maßstab nimmt.
Aber immer mehr Bürger sind schlauer als die Talkshows. Sie begreifen, dass eine Energiewende auch etwas wenden muss (sie ist schließlich keine Zeitenwende). Der Netzbetreiber TransnetBW sieht mehr „Offenheit für Freileitungen“ im Gespräch mit Anwohnern (€).
Die Ampel-Regierung konnte in wenigen Jahren mehrere Gesetze verabschieden, um Windräder und Solarparks schneller bauen zu können. Ernsthaften Widerstand gab es dagegen nicht.
Betrachten wir nur die technischen und ökonomischen Fakten, ist die Sachlage auch klar: Freileitungen sind die bessere Wahl. Kosten und Wartungsintervalle lassen da kaum zwei Meinungen zu.
Robert Habeck aber schiebt den Bundesländern die Verantwortung zu, obwohl sie kein gesetzliches Mitspracherecht haben. Das ist doch interessant, oder?
Habeck duckt sich weg. Er scheut nach dem Heizgesetz den nächsten politischen Großkonflikt, der vom Boulevard leicht manipuliert werden kann.
Da aber Bayern Mitte Juni die Erdkabel-Koalition verlassen hat und nur die Nordländer und NRW noch für Erdkabel sind, steigt die Wahrscheinlichkeit rasant, dass der Erdkabel-Zwang doch fällt.
Denn ich kann mir vorstellen, dass in einer großen Lösung die Länder, der Bund und Betreiber zeitgleich die Leitungsfrage und die Frage nach Strompreiszonen klären. Hier nämlich ist die Interessenlage genau andersherum: Bayern blockiert und die Nordländer wollen eine Reform.
Hinweis: Ich habe diesen Artikel am 14.6. aktualisiert, nachdem Bayern seinen Widerstand aufgab.
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Die guten Links
Deep Dives, die deine Zeit wert sind.
🌊 Das war ein Tweet, nach dem ich kurz gebraucht habe, um mich zu sammeln:
Just attending a 3-day workshop on the danger of abrupt ocean circulation changes. Discussions are quite worrying. E.g. in 35 to 45 % of high quality models, convection in the open North Atlantic collapses in the 2030s due to #globalheating. -> Major climate disruption. ☹️
— Prof. Stefan Rahmstorf 🌏 🦣 (@rahmstorf)
1:00 PM • Jun 4, 2024
PIK-Forscher Stefan Rahmstorf ist einer der führenden Experten zur nordatlantischen Umwälzströmung (im Volksmund: „Golfstrom“). Bei einem Workshop hat er erfahren, dass qualitativ gute Klima-Modelle zeigen, dass diese Strömung ab Mitte der 2030er-Jahre kollabieren könnte. Wahrscheinlichkeit: 35–45 %. Das ist wie russisches Roulette mit drei Kugeln im Revolver. Denn die Folgen so eines Kollapses wären verheerend.
In diesem auch für Laien verständlichen Text zeigt uns Rahmstorf, was wir aktuell über einen möglichen Kollaps der nordatlantischen Strömung wissen.
🇪🇺 Europa hat ein neues Parlament gewählt und Frankreich und Deutschland sind deutlich nach rechts gerückt – was automatisch die ganze EU nach rechts zieht. Am Sonntag habe ich auf Twitter gelesen, dass diese Wahl das „Ende des Green New Deals“ bedeuten würde.
Ich werde eine Newsletter-Ausgabe von Cleantech Ing. der Zukunft der EU-Industrie- und Klimapolitik widmen, wenn klar ist, mit wem die mächtige Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen künftig Gesetze verabschieden will: mit den Ultra-Rechten oder den Grünen? Ironischerweise haben die Grünen europaweit verloren; trotzdem könnten sie Königinnenmacher werden. Und das hätte positive Folgen für den Green New Deal.
Gleichzeitig war der Green New Deal das zentrale Gesetzesvorhaben der letzten fünf Jahre. Hinter ihm stehen die mächtigsten Fraktionen und Politiker der EU.
Deswegen könnten die Folgen deutlich kleiner sein, als manche nach dem ersten Schreck der Wahl vermuten. Das zeigt auch dieser ausführliche und differenzierte Hintergrund des MDR. Ergänzend auch hier Hintergründe bei Klimareporter und den Stuttgarter Nachrichten.
Die wichtigen News
Nachrichten, über die die Branche gerade spricht.
🔋 Volkswagen steigt in den Betrieb von großen Batteriespeichern für das Stromnetz ein. (Link)
🌬️ Erneut Null-Cent-Gebote bei Ausschreibung für Offshore-Wind. (Link)
☀️ Größer als Hamburg: China weiht größte Solaranlage der Welt ein (Link)
⚡️ Mit einer Kombination aus dynamischen Stromtarifen und kapazitätsbasierten Netzentgelten ließe sich der Netzausbau laut Fraunhofer sparen. (Link)
♨️ Knapp zwei Drittel der 2023 errichteten Wohngebäude heizen mit Wärmepumpen. (Link)
⚡️ Lazard veröffentlicht den 2024er-Report der Levelized Cost of Electricity (Link, PDF)
⚡️ Eine Studie von Agora Industrie zeigt, dass die Direktelektrifizierung 90 Prozent des noch nicht elektrifizierten Energiebedarfs der europäischen Industrie bis 2035 decken könnte. (Link)
♻️ Die zweite Ausgabe von The State of Carbon Dioxide Removal ist draußen. (Link)
🇨🇭 Deutliche Mehrheit für erneuerbare Energien bei Volksabstimmung in der Schweiz. (Link)
Der letzte Link
⛽️ Auf den Postillon darf man eigentlich nicht verlinken, weil jeder den Postillon liest. Aber wenn du zu den drei Deutschen gehörst, die es nicht tun…hier nun die Schlagzeile, die mich etwas zu laut kichern ließ: „Will nachhaltiger werden: Vin Diesel benennt sich in Vin Denergie um“
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👋 Du denkst vielleicht, dass ich diesen Newsletter für dich schreibe. Aber natürlich tue ich es allein für meine Street Cred. Nun muss nur noch der Moment kommen, an dem ich ausführlichst auf Elektronenebene erklären kann, warum Hochspannungsleitungen brummen.
Rico Grimm
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