Optimist vs. Pessimist: Der Wasserstoff-Hochlauf

Ich zeige dir die besten Argumente beider Seiten

Hi Cleantechie!

Dieser Newsletter gibt dir jede Woche in 5 Minuten den Überblick über die wichtigsten Unternehmen, Forschungsdurchbrüche und Trends der Branche.

Heute zeige ich dir, wo der Wasserstoff-Hochlauf eigentlich gerade steht. Dazu habe ich eine eindeutige These entwickelt: Es ist der klarste Fall von Glas-halbvoll, Glas-halbleer, der mir seit Langem begegnet ist 😉 Deswegen zeige ich dir das optimistische und das pessimistische Szenario.

Bei den guten Links setze ich den Fokus auf die Industrie für synthetisches Fleisch. Je mehr Fortschritte wir in den großen Bereichen Energie und Verkehr machen, desto wichtiger wird, was im Bereich Landwirtschaft passiert.

Am Ende des Newsletters kannst du mir in einer Mini-Umfrage helfen, welches Thema ich als Erstes nach meinem zweiwöchigen Urlaub angehen soll. Wir bleiben, natürlich, weiterhin erst mal im Feld der Speicher.

Let’s go!

Wie sich der Wasserstoff-Hochlauf entwickelt

  • Der Entwurf für ein Wasserstoff-Kernnetz ist da. Es soll 9.666 km lang werden, 60 Prozent davon machen umgestellte Gasleitungen aus und das Investitionsvolumen soll fast €20 Milliarden betragen.

  • Fast gleichzeitig hat die Bundesregierung ihre Importstrategie vorgelegt.

  • Zitat aus der Pressemitteilung: „Die Bundesregierung geht von einem nationalen Bedarf an Wasserstoff und dessen Derivaten in Höhe von 95 bis 130 TWh in 2030 aus.“

  • „Dabei müssen voraussichtlich rund 50 bis 70 % (45 bis 90 TWh) aus dem Ausland importiert werden.“

  • Sowohl die Industrie als auch Umweltverbände kritisieren die Strategie. Die Industrie vermisst Details zu einer „verlässlich wachsenden“ Nachfrage und die NGOs vermissen Nachhaltigkeitskriterien.

🍏 Was ich denke

In diesem Abschnitt gebe ich dir meine persönliche Einschätzung. Dabei übersehe ich zwangsläufig Dinge. Deswegen freue ich mich über Hinweise und Kritik. Lob nehme ich auch. Antworte mir direkt auf diese Mail oder besuche die Kommentarsektion.

Eigentlich hatte ich vor, anlässlich dieser beiden Meldungen einen größeren Schwerpunkt auf Wasserstoff für die deutsche Industrie zu legen. Ich wollte dir die eine knackige These mitgeben, die dir hilft, dich in diesem Sektor in den nächsten Monaten besser zu orientieren.

Bisher allerdings, gebe ich zu, bekomme ich das Thema analytisch noch nicht ganz zu fassen. Was mich dabei aber beruhigt ist, dass es auch vielen Fachexperten so zu gehen scheint:

  • Große Forschergruppen und renommierte Thinktanks sind sich komplett uneinig: Ihre Prognosen für den tatsächlichen deutschen Wasserstoff-Bedarf im Jahr schwanken um den Faktor acht (Fraunhofer, Metastudie, PDF).

  • Gleiches beim Preis: Vielleicht kostet ein Kilo grüner Wasserstoff 1,4 Euro im Jahr 2030 – oder eben 3,7 Euro (Wuppertal Institut, PDF).

Was ich dir statt einer knackigen Thesen mitgeben kann: Argumente beider Seiten, für das Glas-halbvoll und das Glas-halbleer Szenario.

Der pessimistische Blick

Einerseits ist klar, dass wir Wasserstoff brauchen werden, um die Industrie zu dekarbonisieren. Andererseits verläuft der sogenannte Markthochlauf in meinen Augen sehr schleppend. Er ist kaum zu erkennen – gemessen an den Erwartungen, die sich in den Jahren 2019 und 2020 in Europa aufgetürmt hatten.

Thyssenkrupp Nucera hat gerade seine Wasserstoff-Prognosen nach unten korrigiert. Der Mega-Wasserstoff Bulle Andrew Forrest von der australischen Fortescue wiederum musste seine Ausbaupläne zusammenstreichen.

Und es gibt zwar viele Firmen, die an neuen Wasserstoff-Projekten arbeiten, aber nur vergleichsweise wenig, die dann auch eine finale Investitionsentscheidung treffen. Ankündigen lässt sich im ersten Green-New-Deal-Rausch vieles, wenn aber die Gelder nach kühler Kalkulation der Projekte dann nicht fließen, spricht das für sich.

In einem ausführlichen Bericht (PDF) zur Situation der europäischen Wasserstoff-Industrie konstatierte die Beratungsagentur Strategy&, dass nur 1,8% der global angekündigten Wasserstoff-Projekte letztlich auch umgesetzt werden.

Ein Blick auf die Übersicht der Berater ist sehr ernüchternd. Hellrosa sind die angedachten Projekte und hellgrau die letztlich finanzierten. Dass Europa keine 205 GW Elektrolyseur-Kapazität brauchen wird, ist klar. Da wurde viel über Bedarf geplant, aber 2,9 GW sind zu wenig. Allein Deutschland wollte im Jahr 2030 schon 10 GW Kapazität im Land haben.

Dass es so langsam vorangeht, liegt auch daran, dass potentielle Abnehmer zögern. Dass Firmen wie Salzgitter und Uniper Verträge über Wasserstoff-Lieferungen unterschreiben, wenn überhaupt noch nicht klar ist, wie dieses H2 geliefert werden kann, ist die Ausnahme.

Zwar gibt es jetzt Pläne für das Kernnetz, aber es nicht klar, wann genau das erste H2 kommt, wie grün es sein und vor allem nicht, was es kosten wird.

Vor zwei Monaten schrieb ich:

Dass die Netzbetreiber so hart dagegen gekämpft haben, am Ende 24 % der Kosten [des Kernnetzes] zu tragen, sollte das Projekt scheitern, zeigt, dass sie diese Argumente kennen und ihr Risiko minimieren wollen.

Sicher ist nur, dass Wasserstoff weder in Gebäudeheizungen noch in PKW eine Zukunft hat.

Je länger diese Unsicherheit besteht, desto interessierter werden sich potentielle Wasserstoff-Abnehmer nach direkten elektrischen Alternativen umsehen, wenn das technisch möglich ist.

Zusammenfassend: Strukturell überschätzen Wirtschaft und Politik seit Jahrzehnten die Bedeutung und die Potenziale von Wasserstoff für die Energiewende. Das Gas lässt sich zwar für denkbar vieles verwenden. Aber nur, weil etwas denkbar ist, ist es nicht auch gleich sinnvoll.

Wir werden noch viele Pleiten und gescheiterte Wasserstoff-Projekte sehen.

Der optimistische Blick

Nach vielen Verzögerungen und Debatten kommen die vielen einzelnen Teile der zukünftigen Wasserstoff-Wirtschaft endlich zusammen.

Großabnehmer wie Salzgitter oder die Dillinger Hütte bauen bereits die Anlagen, in denen sie den grünen Wasserstoff verwerten werden und nach der Entscheidung der Bundesregierung können auch die Bauarbeiten am Kernnetz beginnen. Gleichzeitig vergibt die Europäische Union Milliardenhilfen für Wasserstoff-Produzenten, und die ersten Import-Deals nehmen auch sehr konkrete Gestalt an.

Selbst die australische Fortescue will nicht komplett von Wasserstoff abrücken, das stellte der CEO gerade klar und mögliche Produzenten treffen auch immer mehr große finale Investmententscheidungen. TotalEnergies, EWE und Shell bauen Elektrolyseure mit jeweils mehr als 100 MW Kapazität. Und auch Nucera verspricht sich langfristig viel vom Elektrolyseur-Geschäft.

Die Frage ist ja, was eigentlich alle erwartet hatten: Dass die Welt innerhalb von zwei Jahren komplett neue globale Wertschöpfungsketten für ein Gas hochziehen kann, das in der Zivilisationsgeschichte bisher nur für seine unrühmliche Rolle beim Hindenburg-Unglück bekannt war?

So ein Ausbau dauert eben. Jetzt aber, wo die ersten Gelder fließen, die Infrastruktur absehbar kommt, kann der Hochlauf Fahrt aufnehmen.

Gleichzeitig dürfte der schnelle Ausbau der Solarkraft Wasserstoff als Langzeitspeicher deutlich attraktiver machen. Energie über Monate hinweg speichern, das ist mit den technisch vergleichsweise komplexen und wartungsaufwendigen Batteriespeichern viel zu teuer. Uniper untersucht in einem Pilotprojekt bereits alte Salzkavernen, die bis zu 600 GWh Energie in Form von Wasserstoff aufnehmen könnten.

Die Technik dafür ist marktreif und speziell PEM-Elektrolyseure könnten schneller billiger werden, als viele denken. Denn auch sie folgen, genauso wie Batterien und Solarkraft, exponentiellen Lernkurven.

Zusammenfassung: Es wird Pleiten geben, aber diese sind Teil des nötigen Lernprozesses. Wasserstoff wird seinen Platz finden in der Energiewende. Und der Anfang dafür wurde in diesen Monaten gemacht.

👉️ Steige tiefer ein

  • Eine Studie von Agora Industrie zeigt, dass die Direktelektrifizierung 90 Prozent des noch nicht elektrifizierten Energiebedarfs der europäischen Industrie bis 2035 decken könnte.

  • Ich habe für die Klimafakten.de eine Einführung in Wasserstoff geschrieben, für Menschen, die sich bisher noch nicht damit beschäftigt haben.

  • Im Guardian findest du einen Explainer zur Lage bei Fortescue.

  • Klassiker: Die Wasserstoff-Leiter von Michael Liebreich

Jobs & Deals

💶 Osapiens, Mannheim, holt sich €110 Millionen in einer Series B für seine ESG-Management-Plattform (Lead: Growth Equity/Goldman Sachs). 34 offene Stellen in Sales, HR, Business Development.

💶 Marcley, Hannover, hat sich auf die Versorgung von Mehrparteienhäusern mit Solaranlagen spezialisiert. Gerade haben sie €4 Millionen bekommen (Leads: Virida Capital und Venture Stars). Vier offen Stellen, u.a. Bauleiter und Head Of Technical Operations. Initiativbewerbung möglich.

💶 Amperecloud, Berlin, will mit seiner Software helfen, Wind- und Solarparks zu managen. €3,3 Millionen Euro bekommen sie in einer Serie A (Lead: Encevo). Vier offene Stellen.

👉️ Hier habe ich für dich eine Liste von Jobportalen für grüne Jobs zusammengestellt.

❓️ Sucht dein Unternehmen Mitarbeiter:innen? Schreib es mir!

Die wichtigen News

Nachrichten, über die die Branche gerade spricht.

🔋 Neuer Samsung-Festkörperakku soll in knapp 10 Minuten geladen sein (Link)

🔋 Je billiger Batterien werden, desto öfter werden wir sie an Orten finden, an denen wir sie nicht erwarten. Zum Beispiel in einem Herd. (Link)

😮‍💨 Methan ist 28-mal so potent wie CO₂ (das dafür aber länger in der Atmosphäre bleibt). Forscher können jetzt zeigen, dass die globalen Methan-Emissionen so schnell wie noch nie steigen. (Link)

🌍️ Warum Afrika kurz vor einer Solar-Revolution steht (Link)

🔌 Sechs interkontinentale Stromverbindungen, die die Welt der Energie neu gestalten wollen (Link)

⚓ Warum Atomschiffe wiederkommen könnten (Link)

⚛️ Der Chef des französischen Energieversorgers EDF will neue Kernreaktoren in jeweils weniger als sechs Jahren bauen und damit die Bauzeit halbieren (Link)

🤖 Die Roboter kommen, und sie haben eine Mission: Solarpaneele installieren (Link)

🚗Bald mehr BYD auf Europas Straßen: Denn Uber geht eine Partnerschaft mit dem chinesischen E-Autobauer ein. (Link)

🌬️ Wissenschaftler warnen: Globale Methanemissionen steigen so schnell wie seit Jahrzehnten nicht mehr (Link)

🏠 Bürgerenergie darf nicht an den Rand gedrängt werden (Link)

♨️ Laut einer Analyse kann Geothermie zumindest in Ballungsräumen Kohle und Erdgas ersetzen (Link)

🧮Die Science Based Target Initiative (SBTI) legt ihren Bericht zur Effektivität von CO₂-Krediten vor (Link)

Der letzte Link

Glückwunsch und Danke an Bruno Burger, dem Kopf hinter Energy Charts. Seit nun 10 Jahren sammelt er dort Daten und Charts zur deutschen Energiewende. Richtig gute Arbeit! 🙏 

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