"Irgendjemand wird schon was Schlaues erfinden"

Jan Hegenberg nimmt sich einen hartnäckigen Mythos vor

Hi Cleantechie!

Es ist Woche zwei meines Urlaubs und inzwischen habe ich den Pool mal verlassen, um mein kühles Getränk zu erneuern und ein neues Buch zu holen.

Ein Buch, auf das ich mich schon sehr lange gefreut habe.

Jan Hegenberg, bekannt als „Der Graslutscher“ auf X (ehemals Twitter), hat es geschrieben. Es heißt „Klima-Bullshit-Bingo“. Ich kenne keinen anderen Autor, der so witzig, so pointiert und zugänglich über die Energiewende schreiben kann.

Nachdem er in seinem Bestseller „Weltuntergang fällt aus“ eine positive Vision unserer Klimazukunft gezeichnet hat, widerlegt Jan in diesem Buch 25 Stammtisch-Parolen, die zu Klimakrise und Energiewende die Runde machen.

Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Denn irgendjemand muss es ja tun.

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Jan und ich haben ein kleines Kapitel aus diesem Buch für dich ausgewählt, das für uns Cleantechies wichtig ist. Denn darin greift Jan ein Argument auf, mit dem die Energiewende immer wieder verzögert werden soll: „Irgendjemand wird irgendwann irgendetwas Schlaues erfinden, weswegen wir uns heute nicht anstrengen brauchen.“ 

Ich habe jetzt nur noch ein Problem: Ich weiß nicht, welchem Onkel ich das Buch zuerst schenken soll: dem einen oder dem anderen? 😉 

Let’s go!

Irgendjemand wird schon was Schlaues erfinden

Von Jan Hegenberg

Wir erleben gerade einen Boom im Sektor für klimaneutrale Energieversorgung und -verwendung, den so vor 10 Jahren auch die optimistischsten Analysten nicht haben kommen sehen.

Umso absurder wirkt es da auf mich, wie oft immer noch Klimaschutz zu verzögern versucht wird. Besonders absurd, wenn es mit dem Verweis darauf geschieht, dass ohnehin schon bald irgendwer etwas erfinden wird, was all unsere Anstrengungen überflüssig macht.

Abgesehen davon, dass diese riskante Idee den Namen „Strategie“ genauso wenig verdient hat wie der Aufbruch zu einer Nordpol-Expedition ohne ausreichend Verpflegung in der Hoffnung, dort schon irgendwo etwas zu Essen zu finden, ignoriert sie auch sträflich, wie viele Erfindungen es ja längst gibt, die uns in Marktreife zur Verfügung stehen.

Sätze wie „Für richtigen Klimaschutz müssen wir jetzt erst mal technologieoffen forschen und dann die beste Lösung wählen“ habe ich so oft gelesen, dass ich diesem Scheinargument ein Kapitel in meinem Buch „Klima Bullshit Bingo“ gewidmet habe und dort all die Erfindungen aufzähle, die uns jetzt gerade bereits zur Verfügung stehen, hier ein Auszug:

Wenn jemand sagt, irgend­wer solle mal ein paar richtig nette Erfindungen für einfachen Klimaschutz machen, dem müsste man »IST LÄNGST PASSIERT!« entgegenschreien. Ich frage mich da immer, wie viel stärker mich diese Forderung eigentlich nerven würde, wenn ich nicht Autor, sondern Ingenieur geworden wäre und in dem Bereich arbeiten würde.

In dieser Vorstellung habe ich nicht BWL studiert, sondern Ingenieurwissenschaft, bin dann in den frühen 2000ern nach Dänemark gezogen, habe da an der Entwicklung neuer Windkraft­anlagen mitgearbeitet und zum phänomenalen Ergebnis beige­tragen, das heute die Welt revolutioniert: deutlich weniger Platz pro Megawattstunde benötigende Kraftwerke, die über 10-mal so viel Nennleistung verfügen wie die vor gut 20 Jahren.

Faktor 10 in 20 Jahren – und dann lese ich, dass es Norbert auf Facebook leider nicht innovativ genug sei. Ja, dann erfinde halt selbst was Besseres, als die benötigten Mengen Strom wie im Ener­gie-Schlaraffenland aus der Luft zu fischen und dabei gleichzeitig für ganz Deutschland nur so wenig Fläche zu versiegeln, wie Frank­furt am Main groß ist, und das auch noch zu fallenden Preisen.

Und das ist ja nur eine bahnbrechende Technologie von all den Assen, die uns gerade beim Kampf gegen die Klimakrise in die Ärmel gestopft werden. Wie komplett verarscht müssen sich die Menschen in den Forschungsabteilungen für Solarzellen, Bat­teriespeicher und Fertigungstechnik vorkommen, wenn ihnen ein Typ, der offenbar 20 Jahre auf einer einsamen Insel verschollen war, vorwirft, in all der Zeit nichts zustande gebracht zu haben?

Während der Kokosnüsse gesammelt und mit Volleybällen ge­redet hat, wurde ja nicht nur die Windkraft besser, auch Solarzel­len sind heute viel effektiver: Der Wirkungsgrad der auf Dächern und Freianlagen eingesetzten Zellen hat sich während seines In­selaufenthalts auf etwa 25 Prozent verdoppelt (tatsächlich gibt es schon Tandem-Zellen mit knapp 50 Prozent Wirkungsgrad, die sind aber so viel teurer, dass sie nicht in gewöhnlichen Anlagen auf dem Dach Verwendung finden).

Fast noch wichtiger: Ein paar sehr schlaue Leute haben ih­ren Erfindungsgeist genutzt, um extrem produktive Maschinen zu entwerfen, die pro Stunde Zehntausende Solarzellen herstellen können. Dazu müssen extrem dünne (etwa ein fünftel Millimeter) Scheiben aus hochreinem Silizium geschnitten werden.

Dieser sogenannte „Wafer“ durchläuft dann chemische Anwendungen, in sein Siliziumgitter werden Fremdatome für den Ladungsunterschied eingebaut und er bekommt eine Anti-Reflexionsschicht verpasst. Per Siebdruck werden jetzt noch mit Silberpaste die Leitungsbah­nen aufgedruckt und eingebrannt, fertig ist die So­larzelle. Und das machen wir jetzt in einer Maschine mit 10.000 Solarzellen pro Stunde. Aber klar, ist alles nicht innovativ genug.

Der Vorteil einer solchen Maschine ist naheliegenderweise nicht nur, dass der Stapel im Lager schneller wächst, sondern dass die Kosten pro Solarmodul stark fallen und damit dann auch der Preis für den Solarstrom. Zwischen 2009 und 2019 fiel er um knapp 90 Prozent von 360 Dollar/MWh auf 40 Dol­lar/MWh.

»Ja, aber wir brauchen doch Innovationen, um den Strom zu speichern!«, höre ich Norbert meckern. »Es gibt doch gar keine Speicher, also bringt das alles nichts!« Auch bei solchen Aussagen kann ich nur dringend raten, die Tageszeitung zu wechseln, denn die bisherige scheint über die bahnbrechenden Entwicklungen der letzten Jahre mangelhaft berichtet zu haben.

Was Lithium-Ionen-Batterien im Jahr 2024 können, ist einfach nur spektakulär. Und selbst das ist unter­trieben, denn von den jetzigen Möglichkeiten haben selbst vor fünf Jahren nicht mal Batterie-Fanboys ge­träumt.

Im ersten Groß­serien-E-Auto der Welt, dem Nissan Leaf, war im Jahr 2010 eine Batterie mit 160 Kilometern Reichweite verbaut, die in der Her­stellung über 1.000 Dollar pro Kilowattstunde kostete. Heute, nur 14 Jahre später, liegt der Preis bei nur noch 139 Dollar pro Kilowattstun­de. CATL, der größte Batteriehersteller der Welt, hat für 2024 Zellen für 55 Dollar pro Kilowattstunde angekündigt (das sind »nur« Her­steller-Angaben, die sich von der Realität am Ende noch mal unterscheiden können).

Und wem das nicht innovativ genug ist: Der nächste hot shit in der Batterieforschung ist die Natrium-Ionen-Batterie. Die hat zwar eine etwas geringere Dichte, ist dafür aber günstiger in der Herstellung und kommt ohne die nicht ganz unproblematischen Metalle Lithium, Kupfer, Kobalt und Nickel aus.

Ja stimmt, für langfristige Energie-Speicherung brauchen wir noch andere Lösungen. Wie wäre es mit einem riesigen unterirdi­schen Wärmespeicher in Finnland? Der wird in Vantaa, einer Stadt im Norden von Helsinki, gebaut und soll im Winter eine ganze Stadt mit Wärme versorgen können, wenn er im Jahr 2028 fertig­gestellt ist.

Wenn sich das in der Praxis nicht bewährt, können wir den Überschussstrom auch nehmen und mit einem Elektrolyseur Wasserstoff damit herstellen. Blöd daran: Die konventionellen Elektrolyseure mögen eine recht gleichmäßige Stromversorgung, während Wind- und Solarüberschüsse mitunter etwas wankel­mütig daherkommen. Wie wäre es also mit der Etablierung der PEM-Elektrolyse, die mit den schwankenden Stromquellen viel besser klarkommt?

Es gibt Firmen, die das schnelle Aufforsten großer Flächen mithilfe von Drohnen erforschen, in Ruanda haben sich mehrere Hersteller von E-Motorrädern angesiedelt, deren leere Akkus sich einfach gegen volle austauschen lassen, und in der Bohrtechnik arbeiten ehemals für die Gasbranche tätige Firmen an einer »enhanced geothermal« genannten Lösung, um mit mehreren parallelen Bohrungen durch heiße Erdschichten ein Vielfaches an geothermischer Energie pro Anlage zu ernten, die wir ideal mit Solar- und Windkraft kombinieren könnten.

Ob all diese Vorhaben am Ende glücken, ist natürlich alles an­dere als sicher. Vielleicht sind manche davon ökonomisch nicht machbar, vielleicht stinken die Natriumbatterien im Winter nach fau­len Eiern, was auch immer.

Aber selbst mit diesem Ausblick ist es denkbar witzlos, heute nach Erfindungen zu schreien, die es längst gibt. Nein, es wird nicht erst irgendjemand was Schlaues erfinden, es HAT längst je­mand was Schlaues erfunden. Eine ganze Erfindungsparade mar­schiert da gerade in Richtung Zukunft.

Erfindungen kommen übrigens auch nicht einfach so aus dem Nichts, weil jemand in einer altklugen Kolumne erklärt, dass es zu wenig gäbe. Gerade in den letzten 10 bis 20 Jahren hatten solche Erfindungen es sehr schwer, weil sie sich auf einem seit Jahr­zehnten etablierten Markt gegen »billiges« Erdgas durchsetzen mussten.

Billig ist in Anführungszeichen gesetzt, weil der günstige Markt­preis darüber hinwegtäuscht, dass es in der Gesamtrechnung gar nicht billig ist, wenn wir die eingepreisten Umweltschäden mit berücksichtigen. Der Kubikmeter Erdgas mag nur 80 Cent kosten, aber er verursacht allein beim Verbrennen eben noch mal weitere 50 Cent Klimafolgekosten, die jemand anders bezahlen muss. Und hier sind die Emissionen, die bei Förderung und Transport des Gases entstehen, noch gar nicht berücksichtigt.

Wer wirklich mehr Erfindungen möchte, mit denen die alten, klimaschädlichen Lösungen abgelöst werden, muss Letzteren ei­nen entsprechenden Preis geben. Sobald Erdgas und Erdöl den haben, setzen sich andere Lösungen von ganz allein durch. Men­schen sind unglaublich erfinderisch, gerade in der Not. Wenn wir die Not aber notdürftig überstreichen und so tun, als sei Erdgas eine nachhaltige, günstige Geschichte, dann verstauben auch die tollsten Ideen in irgendwelchen Schubladen, weil sie am Markt gegen die subventionierten Klimakiller nicht bestehen können.

Wer das aber alles so lassen möchte und gleichzeitig darauf wartet, dass irgendwer in seiner Garage was erfindet, das den etablierten Mil­liarden-Konzernen ihren subventionierten Markt streitig macht, kann lange warten.

🍏Steige tiefer ein

👉️ Und zuletzt nochmal der Hinweis auf das Buch: „Klima Bullshit Bingo“. Es ist gerade auf Platz sechs der Spiegel-Bestsellerliste eingestiegen. Richtig cool! 👏 

Das war die letzte Urlaubsausgabe. Ab nächster Woche findest du hier wieder das gewohnte Format aus Deep Dives und Links.

Eine Frage habe ich zum Schluss, da ich am Pool ein wirklich sehr interessantes Buch über Chinas Industriepolitik gelesen habe und das Land, nun ja, eine etwas prominentere Rolle in der Cleantech-Industrie spielt.

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