Erdkabel gegen Freileitung – der Crashkurs

Freileitungen gewinnen und werden vielleicht wieder kommen.

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Es ist eine Debatte, die unter der Oberfläche vor sich hin summt, aber an Fahrt gewinnt: Sollte Deutschland wieder auf Freileitungen statt auf Erdkabel setzen? Ich habe für dich die wichtigsten Fakten und Argumente zusammengetragen und gebe dir meine Einschätzung.

In den guten Links heute zwei Schwerpunkte auf den „Golfstrom“ und auf die Europawahl. Zweimal beunruhigende Nachrichten; aber eine von beiden könnte sich als letztlich verkraftbar erweisen.

Let’s go!

Erdkabel gegen Freileitung – der Crashkurs

Warum dieses Thema jetzt wieder wichtig ist

  • Die Energiewende scheitert ohne Netzausbau. Neue Hochspannungsleitungen sind nötig.

  • Der Erdkabel-Konsens bröckelt.

  • Mehrere Bundesländer (u.a. Bayern, Brandenburg, Baden-Württemberg, Hessen), große Netzbetreiber (TransnetBW, Tennet, 50 Hertz), Gewerkschaften, ein Bauernverband und die Industrie wollen doch wieder Freileitungen zulassen.

  • Ihr Argument: Es ließen sich €35,3 Milliarden sparen.

  • 2016 hatten Union und SPD eigentlich entschieden, dass die neuen Leitungen mit Erdkabeln gebaut werden müssen. Gegen die ein Jahrhundert lang üblichen Freileitungen protestierten Anwohner immer wieder.

Das ist die politische Dimension

  • Die Koalition für Freileitungen ist lagerübergreifend. Dass diese Akteure alle gemeinsam das Gleiche fordern, ist bemerkenswert.

  • Wirtschaftsminister Robert Habeck wiegelte im März ab: „Wollte man auf Freileitungen umswitchen, ginge das allenfalls, wenn die Länder schnell und in großer Gemeinsamkeit inklusive Bayern die Bundesregierung auffordern, das zu tun. Und alle müssten dann geschlossen in den Regionen dafür werben.“

  • Bayern bewegt sich lange nicht. Erst in seiner Regierungserklärung vom 13. Juni kündigte Söder an, bei neuen Trassen auf Freileitungen setzen zu wollen. Die bislang geplanten Projekte berührt das nicht.

  • Bleiben die politischen Schwergewichte Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, die neben Schleswig-Holstein gegen die Freileitungen sind.

  • Allerdings könnten die Bundesländer ein neues Gesetz nicht verhindern. Der Bundesrat bleibt außen vor.

Hier sollen die Trassen gebaut werden

SuedLink, SuedOstLink und Ultranet sind die größten geplanten Verbindungen. Sie sind auf der Karte in weiß-rosa dargestellt.

Das sind die technisch-wirtschaftlichen Fakten

Erdkabel und Freileitungen sind technologisch ausgereift; beide transportieren verlässlich Strom bei hohen Spannungen.

Erdkabel haben auf der Leitungsebene einen leichten Vorteil, weil sie weniger Strom bei der Energieübertragung verlieren. Gleichzeitig aber haben sie einen größeren Querschnitt und verbrauchen etwas mehr Material.

Generell gilt bei Stromleitungen: Je höher die Spannung, desto höher muss der Sicherheitsabstand sein.

Da spielen Freileitungen ihren zentralen Vorteil aus: Bei Freileitungen, die 50 Meter über dem Boden schweben, gibt es immer einen Sicherheitsabstand. Die Luft isoliert das Kabel. Außerdem ist deren Montage einfach, genauso wie die Fehlersuche. Die Übertragungsverluste sind gering und als die Hochspannungsnetze entstanden, waren Freileitungen wegen all dieser Gründe die erste Wahl.

Aber es wäre denkbar ungünstig, wenn ich eine Freileitung mit 330 kv Spannung in einer Stadt von Dach zu Dach führe und die Leitung bei einem heftigen Sturm auf die Häuser kracht.

In Städten braucht es an vielen Orten Erdkabel. Berlin etwa hat eine 380kv-„Kabeldiagonale“, die den Osten und Westen der Hauptstadt verbindet und wegen der Energiewende jetzt ausgebaut wird. Du siehst das Berliner Leitungsnetz auf dieser Karte:

Das Hauptargument für Erdkabel war lange Zeit also Sicherheit.

Diese spielt aber in der aktuellen Diskussion keine Rolle, jedenfalls nicht im technisch-physikalischen Sinne, weil es sowieso nur um Leitungen außerhalb von Städten geht.

Viel mehr waren sich Bürgerinitiativen und dann auch Politiker sicher, dass Erdkabel…

  • …schöner anzusehen sind, weil sie gar nicht zu sehen sind.

  • …besser für die Natur seien, weil für sie keine Trassen durch etwa den Thüringer Wald geschlagen werden muss. Alles ist schließlich gut verpackt und gut versteckt. Motto: unten Volt, oben Wald.

  • Außerdem geben Erdkabel nicht so viel elektromagnetische Strahlung ab, was für manche ein wichtiges Argument ist. Sie brummen und knistern auch nicht, wie Freileitungen es vor allem bei Feuchtigkeit tun.

Wie ich das so schreibe, habe ich mich beinahe schon selbst überzeugt: Warum bauen wir überhaupt noch archaische Freileitungen? Haben wir denn nicht schon genug Windräder (und abbruchreife AKWs), die die Landschaft verschandeln?

Erdkabel haben entscheidende Nachteile.

Der größte war lange Zeit auch der Grund, warum es überhaupt keine Erdkabel gab: sie brauchen eine zusätzliche Isolierung. Als das Stromnetz entstand, konnten die Ingenieure keine Isolierung herstellen, die lange genug gehalten hätte. Heute erreichen sie mithilfe von Kunststoffen akzeptable Werte.

Innen das wertvolle Kupfer, außen die Polyethylen-Isolierung. Hier findest du eine detaillierte, schematische Darstellung eines Erdkabels.

Aber Erdkabel halten nur halb so lang (40 Jahre) wie Freileitungen (80 Jahre).

Wenn sie repariert werden müssen, dauert das wiederum bis zu 30-mal länger. Bei Erdkabeln bis zu vier Wochen. Freileitungen können am selben Tag repariert werden.

Das bedeutet, dass Erdkabel dem ganzen Netz in Extremfällen mehr abverlangen, weil sie länger ausfallen als Freileitungen.

Um ein Erdkabel überhaupt verlegen zu können, braucht es einen 50 Meter breiten Arbeitsgraben mit ausreichend Platz für die Baufahrzeuge:

Auch zum Arbeitsgraben gibt es eine schöne, detaillierte Darstellung. // Quelle des Fotos: Amprion

Auf den fertigen, mehr als 30 Meter breiten Erdkabel-Trassen dürfen allerdings keine Bäume mehr wachsen. Deren Wurzeln könnten die Kabel gefährden. Kleine Sträucher gingen aber.

„Unten Volt, oben Wald“. Hörte sich zwar zunächst gut an, funktioniert aber nicht (sorry).

Letzter Nachteil: Im Hochspannungsbereich sind Erdkabel drei- bis achtmal so teuer wie Freileitungen.

Im Jahr 2016 mussten die Netzbetreiber für einen Kilometer Freileitung mit €1,4 Millionen kalkulieren. Für einen Kilometer Erdkabel hingegen mit €4,2-€11,2 Millionen Euro.

Warum?

Das Kabel ist nicht viel teurer. Die Kunststoff-Isolierung auch nicht.

Es sind die Tiefbauarbeiten, bei denen die Bauarbeiter schweres Gerät, Montagezelte und spezielle Bodenmessanlagen einsetzen müssen. So tragen sie auch den Boden schichtweise ab, um den Graben nach Ende der Bauarbeiten auch wieder schichtweise aufzufüllen. Aufwändig!

Bei Freileitungen reichen handelsübliche Industriekräne, um die Masten stückweise zu verschrauben.

🍏 Was ich denke

Das damals von Sigmar Gabriel geführte Wirtschaftsministerium argumentierte im Jahr 2015, dass Erdkabel günstiger als Freileitungen seien. Denn die Bürger akzeptierten Erdkabel eher, die Kabel könnten schneller verlegt werden und so die Redispatch-Kosten im Netz sinken.

(Zur Erinnerung: Redispatch-Kosten entstehen, wenn Netzbetreiber schnell und ungeplant zusätzlichen oder weniger Strom an einem Ort benötigen. Sie steigen u.a. deswegen gerade, weil es zu wenige Leitungen gibt.)

Implizit argumentierte die Bundesregierung damals also: Freileitungen hätten sie auf Jahre hinaus nicht durchbekommen.

Stimmt das?

Die Große Koalition hat es auf jeden Fall nicht ernsthaft versucht.

Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer tauchte, so wirkte es, überall auf, wo es Kameras und Protest gegen Freileitungen gab. Medien nannten ihn die „Speerspitze“ der Bewegung gegen „Monstertrassen“.

Ich vermute, dass die verantwortlichen Politiker vor knapp zehn Jahren die politischen Kosten von Freileitungen mehr scheuten als die tatsächlichen Kosten, die gut versteckt als kleiner Posten auf der Stromrechnung auftauchen. Diese Kosten sind undurchsichtig für den Kunden und interessieren im Detail auch niemanden – jedenfalls, wenn man die durchschnittliche Sachtiefe einer durchschnittlichen deutschen Talkshow zum Maßstab nimmt.

Aber immer mehr Bürger sind schlauer als die Talkshows. Sie begreifen, dass eine Energiewende auch etwas wenden muss (sie ist schließlich keine Zeitenwende). Der Netzbetreiber TransnetBW sieht mehr „Offenheit für Freileitungen“ im Gespräch mit Anwohnern (€).

Die Ampel-Regierung konnte in wenigen Jahren mehrere Gesetze verabschieden, um Windräder und Solarparks schneller bauen zu können. Ernsthaften Widerstand gab es dagegen nicht.

Betrachten wir nur die technischen und ökonomischen Fakten, ist die Sachlage auch klar: Freileitungen sind die bessere Wahl. Kosten und Wartungsintervalle lassen da kaum zwei Meinungen zu.

Robert Habeck aber schiebt den Bundesländern die Verantwortung zu, obwohl sie kein gesetzliches Mitspracherecht haben. Das ist doch interessant, oder?

Habeck duckt sich weg. Er scheut nach dem Heizgesetz den nächsten politischen Großkonflikt, der vom Boulevard leicht manipuliert werden kann.

Da aber Bayern Mitte Juni die Erdkabel-Koalition verlassen hat und nur die Nordländer und NRW noch für Erdkabel sind, steigt die Wahrscheinlichkeit rasant, dass der Erdkabel-Zwang doch fällt.

Denn ich kann mir vorstellen, dass in einer großen Lösung die Länder, der Bund und Betreiber zeitgleich die Leitungsfrage und die Frage nach Strompreiszonen klären. Hier nämlich ist die Interessenlage genau andersherum: Bayern blockiert und die Nordländer wollen eine Reform.

Hinweis: Ich habe diesen Artikel am 14.6. aktualisiert, nachdem Bayern seinen Widerstand aufgab.

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